Mit Red Dead Redemption 2 bringen Rockstar Games nicht nur den Nachfolger zu einem der meistgelobten Spiele aller Zeiten, auch handelt es sich bei dem Western-Epos um ihr erstes Spiel, das von Grund auf für die aktuellen Konsolen entwickelt wurde. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen von Kritikern und Fans weltweit. Ich persönlich bin mit sehr gemischten Gefühlen an Red Dead Redemption 2 herangegangen. Zum einen weil ich den Vorgänger trotz ausgiebigen Spielens nach einiger Zeit hab fallen lassen, zum anderen weil ich seit jeher eklatante Mängel in Rockstars Titeln sehe. Und trotzdem versprühen die Games des amerikanischen Publishers jedes Mal einen gewissen Reiz, der mich dann doch wieder zum Kauf animiert. Vielleicht ist es die unglaubliche Ambition, mit der sich die Entwickler ein aufs andere mal übertrumpfen und es laut einstimmiger Kritik jedes Mal schaffen, neue Genre-Maßstäbe zu setzen. Vielleicht ist es aber auch einfach nur geschicktes Marketing. Tatsächlich habe ich so gut wie jeden Rockstar Titel gespielt, bis auf das lineare Max Payne 3 aber keinen davon beendet – bis vor wenigen Tagen. Red Dead Redemption 2 hat mir gezeigt, dass mich Rockstar auch mit einer offenen Spielwelt fesseln kann und das trotz der bekannten Probleme. Wieso, erfahrt ihr im Folgenden.
Red Dead Redemption 2 ist langsam, es ist träge und daraus macht es von Beginn an keinen Hehl. Ganze drei Stunden dauert es, bis man aus dem linearen Prolog raus ist und die Welt einem offen steht. In dieser Zeit wird einem nicht nur die komplette 20-köpfige Van der Linde-Gang vorgestellt, sondern auch etliche als Missionen getarnte Tutorials untergejubelt. Während sich die Schwierigkeit bei Letzterem hauptsächlich durch die fummeligen und unübersichtlichen Menüs ergibt, ist die große Anzahl an Charakteren etwas, dass mich tatsächlich zunächst gestresst hat. „Welcher von denen ist wichtig? Wer war nochmal Javier? Muss ich die vielleicht schon aus dem ersten Teil kennen? “, waren unter anderem Fragen, die ich mir gestellt habe. Mit Arthur Morgan als Protagonist, einem langjährigen Mitglied der Bande, gibt es storytechnisch auch keinen Grund, weshalb sich die Figuren mir als Spieler nochmal vorstellen sollten. Das Problem relativiert sich im Laufe des Abenteuers glücklicherweise, da den Bandenmitgliedern genug Raum und Zeit gegeben wird und man von den meisten irgendwann, auch dank der fantastischen Sprecher, ein Bild im Kopf hat. Der saufende Onkel, die taffe Witwe Sadie, der Unruhestifter Micah und so weiter. Das Zusammenleben und die Dynamik innerhalb der Gang gehören dabei zu den spannendsten und gleichzeitig beeindruckendsten Elementen. Sämtliche Mitglieder fungieren nicht nur als statische NPCs im Lager, sondern führen einen eigenen Tagesablauf und haben eigene Probleme mit denen sie sich herumschlagen müssen. So kann es gerne vorkommen, dass sich einige der Damen im Hintergrund zanken, Onkel gerade ein Lied mit der Gitarre anstimmt oder Dutch eine seiner Motivationsreden hält, während man selbst gerade seine Klamotten wechselt. Als zum ersten Mal eines der Mitglieder dann selbstständig, ohne Cutscene oder ersichtlichen Auslöser auf mich zukam und angefangen hat mit mir zu plaudern und sich daraus auch noch eine optionale Questlinie entwickelt hat, war das ein absoluter Augenöffner. Und das sind Ereignisse, die am laufenden Band in Red Dead Redemption 2 passieren können.
Etwas, dass mich bei Grand Theft Auto immer gestört hat, ist, das sämtliche Figuren in der Welt, mit Ausnahme der gekennzeichneten NPCs, nichts weiter als namenlose Statisten sind, mit denen man abseits von Gewalttaten nicht interagieren kann. Allein die Tatsache, dass man nun mithilfe der Schultertasten die Möglichkeit hat, jeden noch so beliebigen NPC auf der Straße anzusprechen, und man jedes Mal eine entsprechende Reaktion erhält, lässt die gesamte Welt so viel authentischer wirken. Der Grad an Dynamik, Selbstständigkeit und natürlicher Interaktivität der NPCs ist auf einem Level, den ich so noch in keinem Game zuvor erlebt habe. Dank der schieren Masse an möglichen Ereignissen, kommt es dabei auch nicht zu Wiederholungen. Wenn ich dem Streit der zwei Damen zum Beispiel nicht in genau dem Moment zuhöre, dann habe ich ihn verpasst und bekomme ihn später auch nicht nochmal zu hören. Das Ganze ist dabei symptomatisch für die komplette Spielwelt. Rockstar baut hier eine Welt, die nicht um den Spieler herum gebaut wurde, sondern eine autarke Welt, die den Spieler teilhaben lässt. Wenn ich den Hilfeschreien im Wald nicht nachgehe, dann wird der Mann eben vom Wolf gefressen und ich kann ihn später nicht in der Stadt antreffen, wo er sich erneut bei mir bedankt hätte.
Zu erwähnen ist neben der herausragenden Technik des Spiels – vor allem die wahnsinnige Detailverliebtheit. In Läden reicht es nicht, wenn man das komplette Sortiment in toll gestalteten Katalogen durchblättern kann, nein man kann auch jeden einzelnen Gegenstand in den Regalen selbst finden, aufheben und so kaufen. Arthur selbst kann man mit unzähligen verschiedenen Kleidungsteilen eindecken und die Form und Länge seines Bartes beinahe auf den Millimeter bestimmen, welcher darüber hinaus auch noch mit der Zeit natürlich wächst. Es gibt Nebenaktivitäten wie Poker, Blackjack, man kann sich ins Theater setzen, oder einen Stummfilm anschauen. In der Wildnis gibt es tatsächlich ein funktionierendes Ökosystem, in dem beispielsweise Adler kleine Fische jagen und in dem Raubtiere von liegen gelassenen Kadavern angezogen werden. Ich könnte die Liste ewig fortsetzen, und ich habe in meinem Spieldurchlauf mit Sicherheit eine Menge dieser Kleinigkeiten nicht mal wahrgenommen.
Diese Fülle an Details ist mehr als beeindruckend, jedoch schießt Rockstar Games hier über das Ziel hinaus. Mir werden alle diese wunderbar klingenden Aktivitäten angeboten, aber ich habe oft keine Lust ihnen nachzugehen. Wie kommt’s? Red Dead Redemption 2 ist ein extrem stures Spiel, das mir Komfortmöglichkeiten vorenthält, zu Gunsten des eigenen Realismus-Anspruches. Statt alle Gegenstände mit einem Knopfdruck aufzuheben, muss ich die Taste gedrückt halten, warten bis die Greifanimation zu Ende ist und kann damit dann nur jeweils einen Gegenstand nach dem anderen aufheben. Die gleiche Geschichte beim Kochen von Nahrung am Lagerfeuer. Statt eines universell aufrufbaren Camp-Menüs muss ich mich mit gedrosselter Laufgeschwindigkeit durch das Lager bewegen und kann erst von bestimmten Tischen aus Verbesserungen für die Bande erwerben. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Gang im Laufe der Geschichte von Ort zu Ort zieht, wodurch sich die Platzierung der Zelte und Stände ändert, und man sich jedes Mal komplett neu orientieren muss. So hatte ich beispielsweise im vierten Kapitel ewig gebraucht, um überhaupt Arthurs Schlafplatz zu finden.
Zum Glück fallen darunter eine Menge Dinge, die man nicht tun muss. Das Spiel zwingt mich (außerhalb von Tutorial-Missionen) zu keiner Zeit, dass ich mein Pferd striegle, Tiere jage, mich regelmäßig ernähre, Gegner loote oder das Camp ausbaue. Wenn ich einen extrem detaillierten Cowboy-Simulator möchte, dann gibt mir das Spiel hier alle Möglichkeiten dazu an die Hand. Aber ich brauche nichts davon, um im weiteren Spielverlauf voranzuschreiten, weshalb diese Dinge für mich recht früh zu mühsam und unbedeutend waren, als dass ich sie weiter verfolgt habe. Zu weit geht es mir aber dann, wenn das Spiel schlicht meine Zeit nicht respektiert. Wenn ich nach einer Storymission zwanzig Kilometer von meinem Camp abgesetzt werde, obwohl alle anderen Kollegen zurück zum Camp reiten, und dort ganz klar die nächste Hauptmission auf mich wartet, dann ist das einfach frech. Zumindest die Option immer direkt dorthin zurückzukehren hätte ich mir gewünscht, wo es schon keine klassische Schnellreisefunktion gibt. Eine umso verwunderliche Design-Entscheidung, weil mir diese Option an manchen Stellen sogar geboten wird.
Die oben angesprochene Sturheit des Spiels kommt besonders auch in den Missionen zu tragen. Die Hauptquests sind auf Weltklasse-Niveau inszeniert und bieten sowohl genug Variation innerhalb der Settings als auch storytechnische Kniffe, sodass ich mehr als einmal staunend vor dem Bildschirm saß. Ob auf den höchsten schneebedeckten Bergen, auf einem fahrenden Zug, in einem von Alligatoren bevölkerten See bei Nacht oder einem Heißluftballon, die Vielfalt an Situationen in die man Arthur steckt ist erstaunlich. Allerdings ist hier alles dermaßen durchgetaktet, dass ich mich als Spieler häufig eingeengt fühle. Die kleinsten Abweichungen von den Vorgaben des Spiels führen zum Fehlschlag. So laufen die meisten Missionen nach dem Schema ab, dass mir ein KI-Partner den Weg vorkaut und ich mich natürlich nicht zu weit von dem schmalen Missionsradius entfernen darf. Dazu kommen undurchsichtige Vorgaben wie Zeitlimits, plötzlich zu schützende und dazu noch dämliche KI-Partner ohne Lebensanzeige, sowie One-Hit-Kills. Wo Red Dead Redemption 2 mit seiner weitläufigen Welt absolute Freiheit propagiert, gibt es kaum ein engeres Korsett, als der Ablauf seiner Missionen. Wenn zumindest der Gameplay-Kern so exzellent wäre, dass ich die Vorgaben gerne erfülle – aber dem ist nicht so. Neben dem mittelprächtigen Gunplay, das ohne seine Autolock-Funktion extrem frustrierend wäre, gibt es die altbekannte träge Rockstar-Steuerung, bei der man die Figur nie zu 100% unter Kontrolle hat. Viel zu häufig kommt es vor, dass ich ungewollt Passanten anremple oder überfahre, was wiederum sofort von den Gesetzeshütern als Straftat erkannt wird und ich daraufhin erst mal wieder aus dem Gebiet fliehen darf.
Red Dead Redemption 2 legt viel Wert auf seinen Realismus, nimmt den Begriff bei einer seiner Kernspielmechaniken, den Schießereien, aber nicht so ernst. Munition wird hier auf einmal automatisch aufgehoben, wenn man über Leichen steigt und Gegner tauchen auf wie Schießbudenfiguren. Ernsthafte Frage, wo kommen all die Gegner her!? In einem Kapitel geht es darum, einen verfeindeten Kopfgeldjäger zur Strecke zu bringen, der zunächst vier Kollegen an seiner Seite hat. Bei der unausweichlichen Fluchtsequenz besteht sein Team plötzlich aus 30+ Männern, die schön platziert rund um den Canyon spawnen und auf mich schießen. Wäre das Gunplay exzellent und der sonstige Anspruch auf Realismus nicht derart präsent im Spiel, hätte ich damit wohl weniger ein Problem. So ziehen sich die mittelmäßigen Schießereien aber nur unnötig in die Länge, sind absolut nicht plausibel und gehören zu den Passagen, bei denen ich stets froh bin, wenn sie vorbei sind.
Aber wenn ich das Gameplay als maximal mittelmäßig empfinde, wie konnte mich das Spiel dann trotzdem am Ball halten? Das liegt zu großen Teilen an der grandiosen Geschichte und der Entwicklung seiner Figuren, durch die ich etwaige spielerische Mängel hinnehmen konnte. Nach dem sehr gemächlichen Anfang, bei dem man noch nicht mal sicher ist, wohin die Reise überhaupt geht, nimmt die Story ab Kapitel 3 extrem Fahrt auf, und hat mich ab diesem Punkt nicht mehr losgelassen. Rockstar Games präsentiert uns mit Arthur Morgan einen zunächst wenig nahbaren Protagonisten, der sich auch sichtlich keine Mühe gibt, besonders sympathisch zu erscheinen. Im Laufe der Story ist mir aber dann nicht nur er, sondern die gesamte Bande extrem ans Herz gewachsen. Die Höhen und Tiefen, die die Charaktere zusammen durchleben, wie sie nachts am Lagerfeuer ihre persönlichen Geschichten austauschen, gemeinsam singen und sich gegenseitig helfen. Gleichzeitig nimmt Rockstar kein Blatt vor den Mund und inszeniert die Story in all ihrer Brutalität und Härte, wie es sich für das Setting gehört. Mit einer geradezu Beiläufigkeit passieren hier Schicksalsschläge, die in anderen Spielen wahrscheinlich nur als dramatische Cutscene mit langem Vorlauf passieren würden. „By 1899 the west had nearly been tamed“ heißt es in einem der Trailer und fasst damit das Thema des Spiels in einem knappen Satz zusammen. Während die Industrialisierung in schnellen Schritten voranschreitet, versucht die Dutch Van Der Linde-Bande weiterhin an den alten Tagen und Traditionen der Revolverhelden festzuhalten. Es ist von Anfang an klar, dass die Geschichte kein gutes Ende nimmt und trotzdem wird sie dermaßen spannend erzählt, dass es mir während des Spielens komplett egal war. Der langsame Zerfall der Bande und die Konflikte zwischen den einzelnen Figuren, insbesondere die Beziehung zwischen Arthur und Bandenchef Dutch, die nach und nach zu bröckeln beginnt, haben mich derart mitgenommen, dass ich ab einem bestimmten Punkt den Controller nicht mehr aus der Hand legen wollte.
Ich war selten so genervt und gleichzeitig beeindruckt von einem Spiel wie von Red Dead Redemption 2. Es ist schwer zugänglich, legt mir unnötig Steine in den Weg und trotzdem hat es mich an so vielen Stellen fasziniert. Es ist ein Spiel, dass in vielerlei Hinsicht keine Kompromisse eingeht und das ist sowohl eine seiner größten Stärken, als auch Schwächen. Ich würde mich keineswegs als Western-Fan bezeichnen, aber Rockstar Games haben es geschafft, mich derart in ihre Welt zu ziehen, dass ich mich auch nach dem Ende noch tiefer mit dem Red Dead-Universum beschäftigen wollte und sogar wieder Lust auf den ersten Teil bekommen habe.
Getestet auf PlayStation 4 Pro